Die Philosophie des Rasenmähers
Haben Sie schon irgendwo einen gebeugten Mann ein Mähgerät durch den Garten schieben sehen? Ich vielleicht schon Hunderte, einige schoben mechanische, andere elektrische Maschinen, und die Begüterteren saßen auch auf kleinen Mähtraktoren. Und manche betägten sich mit einer elektrischen Handsense. Als Junge habe ich sogar noch Männer mit Handsensen gesehen. Die haben jedoch nie Gras aus dem Grunde geschnitten, aus dem es die Leute jetzt taten. Der Schönheit wegen. Und so kann ich mich, wenn ich einen Mäher auf seinem Zierrasen sehe, der Zweifel nicht erwehren. Auf dieser Welt gibt es doch so viel Arbeit, so viel angefangene Hausbauten, so viel unreparierte Maschinen, so viel verschüttete Brunnen - und dennoch hat ihr Luxustun einen Sinn. Und zwar nicht nur wegen dieses wahrhaft lustvollen Gefühls angesichts des perfekten englischen Rasens. Dieser Sinn hängt nicht mit der sofortigen Zweckmäßigkeit in unseren menschlichen Maßstäben zusammen. Dieser Sinn ist evolutionär, und wir können ihn das "Verbleiben in der Zeit" nennen. Ja, alle diese gesunden und kräftigen Kerle könnten sich aufraffen und etwas wirklich Sinnvolles tun. Für die überwältigende Mehrheit von ihnen ist das Rasenmähen nämlich mehr als eine vergebliche und sinnlose Arbeit. Die Ergebnissse seines Tuns verbrennt im Winter der Frost, und ein einziger Maulwurf kann den schönsten Rasen wunderbar umpflügen. Überdies schiebt die überwältigende Mehrheit von ihnen ihren Rasenmäher in klimatisch wirklich nicht den günstigsten geologischen Breiten. Auf den ersten Blick scheint es sinnvoller, sie würden sich auf den Weg machen und entweder dort den Rasen mähen, wo er wirklich gedeiht, oder etwas Nützliches für die höhere menschliche Berufung an jener Stelle tun, wo es nötig ist. Und dennoch ist es gut, daß sie sich gerade auf diesem Stückchen Welt aufhalten, wohin das Schicksal sie verschlagen hat oder ihre Vorfahren sie zurückgelassen haben. Ohne daß sie sich nämlich dessen bewußt werden, erfüllen sie den geheimen Auftrag der "selbstsüchtigen DNA". Sie verbleiben an den verschiedensten Orten der Welt und erhalten dort durch ihr Dasein gerade deshalb die menschlichen Formen, weil keiner (auch nicht die scheinbar allmächtige und allwissende "selbstsüchtige DAN") wieß, wo der rechte Ort für ihr sicherstes Überleben ist. Gingen diese Männer mit den Rasenmähern nicht auf ihren Grasstreifen, gäbe es keine Gewissheit, daß sie diesen Platz nicht verlassen würden. Derjenige, der den Rasen wirklich nur zum eigenen Vergnügen mäht, ist finanziell gesichert, hat Familie, Kinder, hält andere Formen der "selbstsüchtigen DNA" in Gestalt von Katzen, Hunden, Meeerschweinchen oder Nutztieren, er hungert nicht und ist von keiner offensichtlichen Gefahr bedroht. Indem er den Rasen mäht, glaubt er an die Zukunft. Und indem er sich mit dieser ewigen und niemals endenden Arbeit befasst, droht er nicht innezuhalten und über den Sinn seiner Existenz nachzudenken. Weil ihm sogleich andere, verräterische Gedanken kommen könnten, bei denen er zu dem Schluß kommen könnte, daß ausgerechnet seine Existenz keinen evidenten Sinn hat. Soll er also mähen...
Die Tiere geben die ihnen übertragene genetische Information in der Zeit durch den einfachen Zyklus der Vermehrung weiter. Sie beschäftigen sich bis zu ihrem unabwendbaren Tod ausgiebig damit, bald gehen zu lernen, dann sich in ihrer Umgebung zu orientieren, sich vor Feinden zu verstecken und ihrer zu erwehren, sich einen Partner zu suchen, ihre Jungen zu zeugen und vor ihrer Umwelt zu schützen, und sie erreichen ihr Ende als Maschine, deren Aufgabe sich erfüllt hat. Dieses Szenarium genügt den Menschen nicht. Ein Gedanke breitet sich in Millisekunden aus, und im Leben eines Menschen könnten zu viele davon ohne Antworten bleiben. Deshalb sind alle Formen des "Zeittotschlagens" segensreich. Haben Sie schon einmal fanatischen Fußballfans zugesehen und ihren laienhaften, aber auch sogenannten fachmännischen Kommentaren zum konkreten Spiel gelauscht? Ein vernünftiger Mensch müßte über soviel Sinnlosigkeit nur den Kopf schütteln. Eine so ephemere Tätigkeit wie das Treten eines Balles, der rund ist - und da so manches bei diesem Spiel passiert, findet es seinen "fachlichen" Anwalt --, scheint der höheren Ziele der Menschheit nicht würdig. Doch wer spricht hier von den höheren Zielen der Menschheit? Die Politiker? Aber die gehen doch auch zum Fußball! Die Dichter? Aber die sind ja gleichfalls Fans "ihres" Fußballklubs! Die Philosophen? Heidegger war einer der angesehensten seiner Zeit, und doch erinnerten sich seine Söhne, daß er ein leidenschftlicher Hörer von Fußballübertragungen war. So ist das, und es ist auch gut so. Nicht nur Fußball, sondern jedes menschliche Vergnügen oder das Interesse an beliebigen Dingen, einschließlich des Sammelns von Bierverschlüssen, hat seinen Sinn. Es beschäftigt den Sinn des Menschen, daß er wissen will (und damit Nachricht erhalten will), wie in welchem Spiel gerade sein Klub zurechtkommt. Dass er nur dort leben möchte, wo er seine Sammlung von Überflüssigkeiten hat, und daß er sich vor allem mit unschädlichen "Pflichten" statt mit allzu tiefen Betrachtungen oder mit Gedanken für gegenseitiges Totschlagen abgibt. Mögen sich die Menschen Geschichten erzählen, mögen sie diese lesen, im Kino oder daheim im Fernseher sehen - ihre eigene große Geschichte fließt unterdessen still und unbemerkt dahin. Es ist die Geschichte des Lebens als besonderer Existenzform der Eiweiße und Nukleinsäuren. Es möge Ihnen bitte nicht die Sprache verschlagen, daß ein gewissr Friedrich Engels diese Definition des Lebens entworfen hat. In jenem Augenblick hat er bestimmt gewusst, wovon er sprach...
(Ende)
Übersetzt von Karl-Heinz Jähn
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